Nie zu alt, nie zu spät – nur ein Espresso weit entfernt
- Giuseppe Vazzano

- 1. Sept.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Sept.
Es ist Markttag.
Zwei Frauen bleiben vor dem Stand mit den leuchtend roten Paprikas stehen.
„Komm doch mit zum Italienischkurs, macht Spaß!“, sagt die eine, die Haare fest zum Zopf gebunden, Stimme voller Sommer.
Die andere lacht. Kurz, fast wie entschuldigend.
„Ach, für sowas bin ich zu alt.“
Sie winkt ab, greift nach einer Tüte Tomaten, als würde sie damit gleich das Gespräch beenden.
Ihre Freundin zuckt mit den Schultern.
Der Händler wiegt, nennt den Preis.
Alles geht weiter, als wäre nichts passiert.
Aber in dem Lächeln der Frau, in diesem „zu alt“, liegt etwas, das schwerer ist als jedes Kilo Tomaten.

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Ich hör diesen Satz oft: „Dafür bin ich zu alt.“
Er kommt leise daher, manchmal mit einem Lachen, als wäre er harmlos.
Aber dahinter sitzt er wie ein alter Hund vor einer verschlossenen Tür, die längst vergessen wurde.
Dieses „zu alt“ ist selten eine Frage des Körpers.
Es ist oft nur das Ergebnis von Jahren, in denen man sich eingeredet hat, dass die Welt kleiner wird, je älter man wird.
Ich hab Menschen gesehen, die mit 30 schon alt waren – und andere, die mit 80 noch wie Kinder staunen konnten.
Das Alter, um etwas Neues zu lernen, beginnt nicht mit grauen Haaren.
Es beginnt in dem Moment, in dem man aufhört, Fragen zu stellen.
Und jedes Mal, wenn jemand sagt „zu alt“, seh ich förmlich, wie eine Kerze ausgepustet wird.
Nicht, weil das Wachs alle ist.
Sondern weil man vergessen hat, dass man ein Streichholz in der Tasche hat.
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Sie kommt ins Café La Nostra Vita wie jemand, die schon viel zu lange immer denselben Weg geht.
Setzt sich an den Tisch nahe der Tür, bestellt einen Cappuccino.
Neben ihr sitzt ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig, mit einem zerfledderten Italienisch-Lehrbuch.
Er sucht ein Wort, murmelt vor sich hin.
Sie wirft einen Blick hinüber, lächelt.
„Was heißt denn…?“ sie spricht den deutschen Begriff.
Er antwortet sofort, mit diesem leichten Stolz eines Menschen, der sein Wissen teilen darf.
Sie wiederholt das Wort, erst unsicher, dann fester.
„Bello“, sagt er, „Sie haben eine gute Aussprache.“
Sie lacht, diesmal anders als auf dem Markt.
Der Cappuccino kommt, die Crema bricht unter dem Löffel auf.
Draußen ziehen Wolken auf, aber im Café wird es wärmer.
Am Tresen poliere ich Gläser und sehe, wie sie das neue Wort leise nochmal für sich wiederholt.
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„Scusi, Signore…“, sagt eine Stimme hinter mir.
Professore Gennaro Cervello steht da, die Haare wie frisch von einem Sturm sortiert, seine Cordjacke, die schon bessere Zeiten gesehen hat, halb offen, ein Notizbuch unterm Arm.
Er will zahlen, tippt aber mit dem Zeigefinger in die Luft, als hätte er gerade etwas Wichtiges eingefangen.
„Diese Signora…“, er deutet zu der Frau am Tisch, „…sie glaubt, sie sei zu alt. Ma che! Wissen Sie, was das Gehirn ist? Eine Piazza!“
Ich runzle die Stirn. Er lächelt breit.
„Ja! Eine Piazza, voller Wege, Plätze, kleiner Gassen. Solange man lebt, kann man neue Gassen pflastern, neue Plätze entdecken. Manchmal sind die alten Wege so oft gegangen, dass man denkt, es gäbe keine neuen mehr. Aber basta! Man muss nur einmal anders abbiegen.“
Er beugt sich vor, flüstert fast: „Die Steine in der Piazza… die legt man bis zum letzten Tag. Und manchmal…“, er tippt sich an die Stirn, „…führt der schönste Weg in eine Richtung, von der man dachte, sie sei längst zu.“
Er zahlt, steckt sein Notizbuch wieder unter den Arm, und geht hinaus, als hätte er gerade nur eben schnell den Wetterbericht korrigiert.
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Im Café La Nostra Vita gibt es keine Speisekarte. Man setzt sich hin und bekommt, was man braucht. Manchmal ist es nur ein Espresso. Manchmal ein Gespräch, das Klarheit bringt. Und manchmal die Erkenntnis, dass man gar nicht zu alt ist - nur zu lange gewartet hat.
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La Nostra Vita zu leben bedeutet: nicht aufhören, neue Gassen zu gehen.
Nie zu alt, nie zu spät. Nur ein Espresso weit entfernt.










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