Vielleicht sind sie gar nicht krank. Vielleicht haben sie einfach die Schnauze voll.
- Giuseppe Vazzano

- 4. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Die Uhr an der Wand zeigt 20 Uhr. Die kleine auf dem Schreibtisch bleibt hartnäckig bei 19.
Ein falscher Trost.
Er sitzt noch da. Dunkle Hose, weißes Hemd, Ärmel hochgekrempelt.
Die Fingerspitzen reiben über die Nasenwurzel, dann presst er die Handballen gegen die Augen. Atmet lang aus, als könnte er die Müdigkeit herausdrücken.
Ein kurzes Strecken, Wirbel knacken leise.
Draußen liegt der Himmel noch glühend über der Stadt, rot wie ein letzter Brand.
Drinnen surrt nichts mehr. Kein Telefon, kein Drucker, kein Kollege.
Nur er.
Vor ihm der Laptop, mattes Licht auf grauen Wangen.
Daneben die Tasse. Leer. Der Rand braun, festgeklebt.
Er lässt den Blick Richtung Flur schweifen.
Die Kaffeemaschine – längst aus, blank gewischt, wie tot.
Gerade noch sieht er die Reinigungskraft um die Ecke verschwinden. Wagen klappert, dann Stille.
Seine Zunge fährt kurz über trockene Lippen, als wollte er etwas sagen, aber er schweigt.
Ein tiefes Durchstrecken, dann legt er die Hand auf den Laptop.
Klapp.
Das Geräusch viel zu laut für diesen Raum.
Er steht auf.
Zieht das Jackett über, langsam, fast mechanisch.
Bleibt im Türrahmen stehen, schaut zurück.
Auf den Stapel Akten, hoch, unbewegt, wartend.
Sein Blick bleibt hängen, nur einen Atemzug lang.
Dann drückt er den Schalter.
Das Licht kippt.
Der Raum fällt in Schwarz.
Und er geht.
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Da draußen wird viel geredet über Burnout, über psychische Gesundheit, über „Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit“.
Aber kaum jemand stellt mal die radikale Frage:
Was, wenn diese Menschen gar nicht krank sind?
Was, wenn sie nicht zusammengebrochen sind – sondern einfach aufgehört haben, sich selbst zu verraten?
Was, wenn Burnout keine Störung ist, sondern ein gesundes „Stopp“?
Ein letzter Schrei des Körpers, bevor die Seele endgültig dichtmacht?
Vielleicht sind sie nicht depressiv – sondern einfach leer.
Leer von zu viel Anpassung.
Zu viel Geben, zu wenig Sein.
Zu viel Funktion, zu wenig Wahrheit. Und einfach nur die Schnauze voll.
Und vielleicht haben sie keine Diagnose verdient, sondern Anerkennung.
Weil sie es gewagt haben, nicht mehr mitzumachen. Was wäre, wenn wir aufhören würden, jedes Nicht-Funktionieren sofort zu pathologisieren?
Und stattdessen mal fragen:
Was hast du zu lange ausgehalten?
Was hast du zu oft runtergeschluckt?
Wofür hast du dich selbst geopfert?
Vielleicht ist das, was wir „Burnout“ nennen, in Wahrheit ein Befreiungsversuch. Und vielleicht ist die gesündeste Antwort darauf nicht:
„Wie machen wir dich wieder einsatzfähig?“
Sondern: „Wie schaffen wir ein Umfeld, ein Leben, in dem du leuchtest und nicht mehr ausbrennst?“
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Die Tür fällt hinter mir leise ins Schloss, ein kleines Klicken im Lärm der Piazza.
Die Luft draußen ist warm und weich, sie liegt auf der Haut wie ein dünnes Tuch. Vom Tag gespeicherte Hitze steigt aus den Steinen auf.
Er sitzt nicht auf einem Stuhl.
Er sitzt am Boden, Rücken an unserer Wand, die Schuhe ordentlich nebeneinander gestellt. Barfuß. Dunkle Hose, weißes Hemd, ein paar Knöpfe offen. Die Augen geschlossen, der Nacken etwas zu weit nach hinten, als hätte er vergessen, wie man den Kopf hält.
Ich bleibe neben ihm stehen. Nicht nah, nicht fern. Einfach so, dass ich seinen Atem höre.
Die Piazza lebt.
Am Brunnen gluckert das Wasser, Kinder kreischen, werfen sich Tropfen zu; das Hallen ihrer Schritte läuft wie Wellen über das Pflaster.
Aus der Trattoria tritt ein Kellner, balanciert eine Schale Pasta, die mit jedem Schritt schwingt. Der Dampf kringelt sich hoch und fängt das Lampionlicht. Ein Atemzug lang liegt der Duft von geröstetem Knoblauch und schwerem Olivenöl über allem, dann weht er weiter.
Von oben klipst eine Nonna Wäscheklammern. Sie hat ein Laken zwischen den Händen, schüttelt es aus; es schlägt zweimal gegen die Brüstung und hängt dann über die Leine, ein weißes Segel über dem Platz.
Eine Vespa knattert über das Kopfsteinpflaster, der Fahrer hebt kurz zwei Finger zum Gruß. Das Rücklicht zieht einen roten Strich in die Dämmerung, der Geruch nach Benzin bleibt wie ein kurzer Schatten in der Nase.
Aus einem offenen Fenster dröhnt ein Fußballspiel. Als das Tor fällt, kippt aus dem Raum ein Jubel, dumpf und warm, jemand klatscht gegen einen Tisch, Gläser klirren.
Zwei Männer gehen vorbei, gestikulieren so groß, als würde es um ein Vermögen gehen.
Eine Frau im hellen Kleid sitzt am Rand, streicht sich die Haare aus dem Nacken, nimmt einen Schluck Rotwein und sieht zu ihm herüber, nur einen Moment, so ein Blick, der nicht fragt und doch alles weiß.
Direkt neben mir: Krümel auf dem Stein. Ein kleiner Junge zerbröselt seinen Keks, wirft die Stücke heimlich hin, eine Taube kommt trippelnd, Kopf schief, pickt, stolpert fast über ihre eigenen Füße.
Und dann der Wind: Er holt von einem Balkon einen Hauch Jasmin, nur kurz, als Erinnerung daran, dass irgendwo jemand Blumen gießt. Gleich danach wieder das Salz der Haut, der warme Atem der Menge.
Ich stelle einen Espresso neben seine Schuhe. Die Tasse berührt das Pflaster mit einem leisen „tok“. Er öffnet die Augen nicht.
„Leer?“, frage ich.
Seine Lippen bewegen sich kaum. „Ja.“
Wir sagen nichts mehr.
Hinter uns schlagen Stuhllehnen an die Tische, Besteck klirrt, ein Kellner ruft „Subito!“. Vor uns fliegt ein Gelato tropfend an uns vorbei – ein Mädchen, Hand in der der Mutter, bleibt kurz stehen, schaut ihn an, als säße dort ein seltsamer Stein, den nur sie sieht. „Andiamo“, sagt der Vater, sie zögert, nickt, läuft weiter, ein weißer Klecks schmiert auf dem Pflaster.
Ich lasse mich neben ihn runter, setze mich nicht ganz, hocke halb, spüre mit der Hand die raue Kante der letzten Steinplatte. Der Boden strahlt Wärme in seine Füße zurück, als würde die Piazza ihn halten, ohne zu fragen, was er hat.
Er atmet. Langsam, flach, dann tiefer.
Die Laken oben bewegen sich noch. Der Brunnen redet sein gleiches, ruhiges Wasser. Ein Glas trifft ein anderes, ein kurzes, helles Klingen, und irgendwo lacht jemand viel zu laut. Der Espresso neben seinen Schuhen duftet dunkel, nah.
Ich schaue nicht auf die Uhr.
Die Piazza macht weiter.
Wir sitzen.
Und die Nacht, die sich über alles legt, lässt beides stehen: das Leben, das überläuft – und einen Mann, der nichts mehr halten will.








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