Der Moment, als sie den Deckel nicht mehr zu bekam.
- Giuseppe Vazzano
- 22. Juni
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Juli
Eine Espresso Geschichte. Aus dem Café La Nostra Vita
Manchmal kannst du noch lächeln –aber es fühlt sich an wie ein Pflaster auf der Seele. Du funktionierst, organisierst, versorgst. Kinder, Job, Alltag, Ansprüche. Und dann stehst du da. Mit einer Tupperdose in der Hand –und merkst, dass du selbst gar nicht mehr reinpasst.
Diese Geschichte ist für alle, die spüren: Ich kann nicht mehr. Ich will so nicht mehr. Und die sich leise fragen, ob das Leben vielleicht mehr sein darf als ein Kalender voller Pflichten und ein Lächeln auf Abruf. Francesca hat den Deckel weggeworfen. Und sich selbst wiedergefunden. Im Café. Im Leben. In sich.
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Sie hatte viele Jahre alles im Griff.
Der Kühlschrank war sortiert, die Wäsche gefaltet, die Kinder pünktlich.
Kalender farbcodiert.
Porridge auf Vorrat.
Und das Lächeln?
Luftdicht verpackt.
Wie ihr Leben.
Wie ihre Seele.

Francesca war nicht irgendeine.
Sie war diese Frau, von der du sagst: "Die kriegt alles hin."
Zwei Kinder. Alleinerziehend. Job. Kita. Schule. Elternabende.
Und immer noch Kuchen fürs Sommerfest gebacken.
Glutenfrei.
Mit einem Lächeln, das sie irgendwann mal geübt hatte.
Und nie wieder loswurde.
Und dann, eines Morgens,
stand sie vor dem Kühlschrank,
mit der letzten Tupperdose in der Hand –
und bekam den Deckel nicht zu.
Er sprang immer wieder hoch.
Wie ein trotziges Nein.
Sie versuchte es dreimal.
Fester. Mit Druck.
So, wie sie es ihr ganzes Leben lang gemacht hatte.
Aber es ging nicht.
Und sie spürte –
es lag nicht am Deckel.
Sie setzte sich auf den Küchenboden.
Zwischen Frühstückskrümeln und einer Spülmaschine,
die piepte wie ein Wecker fürs echte Leben.
Und da war es.
Dieses Geräusch.
Kein Piep.
Kein Wecker.
Sondern ein Knistern.
Ein Aufreißen.
Tief in ihr.
Ein erstes, vorsichtiges "Ich kann nicht mehr."
Francesca kam ins Café,
zwei Wochen später.
Sie roch nach Tränen und Wind.
Trug kein Make-up mehr.
Und ihre Stimme war tiefer geworden.
So, als hätte sie endlich zu sich zurückgefunden.
„Ich hab die Dose weggeschmissen“, sagte sie.
„Und die ganzen Ratgeber gleich mit.“
Sie lachte.
Und zum ersten Mal war es ein Lachen von Innen.
Ehrlich.
Ein Lachen mit Spuren,
mit Hunger,
mit Leben.
Wir setzten uns.
Sie wollte nichts „zum Mitnehmen“.
Sie blieb.
Bestellte nichts.
Nur sich selbst.
Ich kochte ihr einen Espresso.
Dunkel, bitter, heiß.
Wie das Leben.
Sie nippte.
Und schloss die Augen.
„So fühlt sich echt an“, sagte sie.
„Kein Deckel mehr. Kein Müssen. Kein Lächeln auf Abruf.
Nur noch ich.
Und das hier.“
Sie zeigte auf ihren Bauch.
„Das erste Mal wieder Hunger.
Nicht auf Chiasamen.
Sondern auf mich.“
Sie ist geblieben.
Kommt oft.
Spielt Karten mit den Alten.
Lässt sie gewinnen.
Backt manchmal.
Für niemanden.
Einfach so.
Und wenn du sie heute fragst, wie es ihr geht,
sagt sie nicht mehr: „Alles gut.“
Sie sagt:
„Heute war ein salziger Tag. Mit Sonne und Sehnsucht. Und ein bisschen Pfirsich.“
Dann streicht sie dir über die Hand.
Und fragt dich:
„Und du? Kriegst du deinen Deckel noch zu?“
La Nostra Vita.
Ein Café und ein Leben, wo du dich selbst wieder schmeckst.
Und kein Mensch nach deinem Kalorienverbrauch fragt.
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